Der Silberstreif am Horizont der Sexuellen Revolution
Ich stelle mir manchmal vor, dass Gleichstellungsgesetze (orig. Equality Act) wie jenes, das in diesem Jahr in den Vereinigten Staaten verabschiedet werden soll (Stand 13.03.2021: Gesetzesentwurf im Repräsentantenhaus verabschiedet), vollkommen entbehrlich gewesen wären, wenn Christen in der Vergangenheit Menschen mit der Bandbreite an Erfahrungen und Gefühlen, die wir heute als „LGBTQIA+“ bezeichnen, Hoffnung, Trost und emotionale Heilung angeboten hätten. Wer weiß warum wir diesbezüglich versagt haben. Über Jahrzehnte hinweg haben Scham und Stigma in Verbindung mit Sex eine Menge Schaden innerhalb und außerhalb der Kirche angerichtet. Von Abtreibung über Scheidung bis hin zu Geschlechtsumwandlungen – Scham rund um unsere Sexualität hat unsere Gesellschaft stark beeinflusst. Unsere eigenen Versuche und Mühen eine Lösung dafür herbeizuführen und die Sexuelle Revolution der 60er Jahre sind wohl kaum das Allheilmittel, wovon wir geträumt haben. Ihre Frucht sind der regelrechte Zusammenbruch der Familie und die Auflösung jeglicher Verantwortung im Bereich der Sexualität, wie wir sie heute nur zu gut in unserer von Tinder und Pornographie getriebenen Gesellschaft beobachten können. Und doch könnte unsere Bereitschaft zu ganz und gar schamlosen Gesprächen und Ansichten rund um Sexualität und Sex der Silberstreif der Sexuellen Revolution sein. Letztendlich könnte unsere Fähigkeit, transparent und verletzlich im Umgang mit unserer Sexualität zu sein, tatsächlich eine Gebetserhörung sein.
Im Rückblick auf die vergangenen 30 Jahre – die Zeit, die vergangen ist, seitdem ich mich zum ersten Mal als lesbische Frau geoutet hatte – habe ich beobachtet, wie sich die Reaktion auf LGBTQ-Angelegenheiten unter Christen drastisch verändert hat. Zu der Zeit, in der ich als sich offen zu ihrer Homosexualität bekennende Frau Theologie studierte, nahmen meine engen Freunde und ich einige Risiken auf uns. Wir sahen uns als Christen, während wir Erfahrungen mit LGBTQ machten. Viele von uns wurden aus unseren Heimatgemeinden hinausgeworfen und einige von uns haben ihre Familien verloren. Manche sind als Antwort auf Jesu Liebe ihrer Berufung zum pastoralen Amt nachgegangen, indem sie an evangelikalen, theologischen Seminaren studierten, während sie im Verborgenen ein Doppelleben führten. Eine Handvoll wurden entdeckt, „geoutet“ (also entlarvt) und ausgestoßen. So kamen wir an einem der wenigen konfessionellen Seminare zusammen, wo man bekanntermaßen bereit war, LGBTQs Bibelunterricht und pastorales Training anzubieten. Wir konnten zwar noch nicht ordiniert oder mit unseren Partner/innen verheiratet werden, aber immerhin war es uns möglich, von ganzem Herzen Jesus nachzujagen und unserem Dienst Ihm gegenüber nachzugehen – in der Hoffnung, dass sich dies noch ändern würde.
Ich und die, die mir Gleichgesinnte waren, versuchten für LGBTQs einen Weg zu ebnen, um Jesus kennenlernen und nachfolgen zu können. Wir nahmen an, dass es keine Heilung oder Freiheit gab, denn wir hatten bis zu jenem Zeitpunkt nie gehört, dass es möglich war. Oder wenn es möglich war, dann nur mithilfe jahrelanger Seelsorge mit ungewissem Ausgang. Das ist natürlich die göttliche Ironie der Geschichte, wie sie unter anderem in meinem eigenen Leben zu beobachten ist. Es sind nun Jahre vergangen, seit ich das letzte Mal homosexuelle Anziehung empfunden habe und inzwischen identifiziere ich mich nicht mehr als homosexuelle Frau. Er hat mir eine komplett neue Welt eröffnet.
Ich glaube, dass Gemeinden, die in Christus die Kraft und Autorität besitzen, um physische Heilung und echte Wunder zu bewirken, zu eingeschüchtert und beeinflusst von der Scham rund um Sexualität waren. Aus diesem Grund hätten sie den Betroffenen gar nicht ganzheitliche Freiheit und Gesundheit anbieten, geschweige denn darum kämpfen können. Was nicht ans Licht gebracht wird, kann nicht überwunden werden. Über die vergangenen 30 Jahre hinweg habe ich dabei zugesehen, wie die Idee, dass jemand „homosexuell geboren wird“, vollständig aufgeblüht ist. Heute glauben die meisten, dass die LGBTQ-Erfahrung eine angeborene und unveränderliche Realität in dem Leben einer Person ist und dass alles andere als die Bestätigung dessen, schwerste (seelische) Verletzungen bedeutet. Wir nehmen einfach an, dass Gott uns so gemacht hat und Homosexualität in der Tat keine Sünde ist.
Doch dieser Gedanke ist herangereift, während die meisten Christen bereit waren zu Themen rund um Sex und Sexualität zu schweigen.
Doch Dinge ändern sich. Wir haben einen Zeitpunkt erreicht, wo Menschen vermehrt fähig sind authentisch über Sexualität zu sprechen. Wir sind in der Lage, verletzlich und ehrlich im Umgang mit Dingen zu sein, die zuvor vollkommen tabu waren. Es ist „revolutionär“ und es wird einer der wichtigsten Faktoren sein, wenn es um die Errettung von LGBTQs geht.
Noch heute sind die Optionen für viele Christen, die gleichgeschlechtliche Anziehung oder jegliche Form der Geschlechtsdysphorie erleben, sehr begrenzt. Oft gehen damit Gefühle wie Scham und Angst einher. Noch immer besteht für sie innerhalb der Gemeinde(familie) ein gewisses Risiko. Wenn jemand über ihre insgeheimen Gefühle Bescheid wüsste, würden sie vielleicht aufgefordert werden, nicht länger für andere zu beten, das Lobpreisteam zu verlassen oder aus Diensten mit Kindern verbannt werden. Obendrein hat der heftige Aufschrei der Empörung der LGBTQ-Community nicht gerade geholfen. Nun schrecken Christen vor jeglichen Gesprächen rund um Sexualität zurück, weil sie fürchten gedemütigt, oder noch schlimmer, des Missbrauchs beschuldigt zu werden. Infolgedessen werden oftmals Christen, die gleichgeschlechtliche Anziehung erleben, aber versuchen gemäß ihrer auf der Bibel basierten Überzeugungen zu leben, entweder mundtot gemacht oder an die LGBTQ-Gemeinschaft weitergeleitet, selbst wenn dies im Widerspruch zu ihrem Glauben steht. Es gibt nur wenige Orte, an denen eine Person offen über ihre sexuellen Wünsche sein kann und zugleich Unterstützung, Ermutigung und vor allem Hoffnung darauf findet, dass Gott gut ist und Wiederherstellung schenkt.
Viele von uns träumen von Gemeinden, die in der Lage gewesen wären, ohne Scham und Seite an Seite mit Lonnie Frisbee* zu stehen, sodass er nicht mit AIDS angesteckt worden wäre. Oder von Gemeinden, die Paul Cain** besser geschützt und befähigt hätten. Diese großartigen Männer stellen nur zwei der von Gott eingesetzten Leiter dar, die auf dem Grat zwischen einerseits dem Hinauswurf aus der Gemeinde und andererseits dem Dienst an und in der Gemeinde wanderten. Ich glaube, was es braucht, ist das gemeinsame Dienen aller im Leib Christi, während die individuellen Wunden und Verletzungen hinsichtlich der Identität, die oftmals mit der Sexualität einer Person einhergehen, adressiert werden – und zwar über die Zeit hinweg und in Form von Jüngerschaft, Mentoring und Erlebnissen mit der Auferstehungskraft Jesu. An diesem Ort müssen Frauen und Männer sich nicht länger alleine um ihre Gebrochenheit kümmern. Hier werden sie für ihre Hingabe zu Jesus gefeiert.
Gleichgeschlechtliche Anziehung ist komplexer, als man auf den ersten Blick annehmen mag. Es ist weder ein rein körperliches Verlangen, was es zu akzeptieren und anzunehmen gilt, noch ist es einfach nur ein Gedanke, der eingefangen und kontrolliert werden muss. Dahinter verbergen sich über Jahre erlebte und etablierte Wahrnehmungen, Urteile, Hormone und Glaubenssätze, die es zu adressieren gilt. Doch eine Sache ist klar: Gott hat Antworten und Er ist gewillt einen tief in Selbsterkenntnis und Selbstverständnis zu führen, um sie zu finden. Dieser Weg steht jedoch nur den wenigsten zu Verfügung, die gleichgeschlechtliche Anziehung erleben. LGBTQs wissen oftmals nicht, dass diese Möglichkeit existiert und die meisten christlichen Communities bieten ihnen die bedingungslose Liebe, die es braucht, nicht an – aber genau dafür ist es jetzt Zeit! Diejenigen von uns, die sich schon länger auf diesem Weg befinden, setzen sich genau dafür ein!
Manche werden eine Möglichkeit finden und den Weg gehen – und genau diese werden ein unglaublich starkes Zeugnis in diese Generation hinaustragen, das sagt: „Er lebt!“. Sie werden diejenigen sein, die entdeckt haben, was für eine Schönheit darin liegt, wenn man sich von ganzem Herzen Jesus hingibt, sich Ihm anvertraut und welcher Lohn damit einhergeht. Aber vor allem werden sie Wegbereiter dafür sein, in christlichen Kreisen offen über Schwächen reden zu können, während man gleichzeitig darin bestärkt wird, ganzheitlicher Gesundheit und Heilung in seinem Leben nachzugehen. In dieser demütigen Haltung ist Beziehung und Intimität möglich. Darüber hinaus könnte dies einer der entscheidenden Faktoren sein, um die Familienstruktur, die sich der Apostel Paulus für das Christentum ausgemalt hat, wiederherzustellen.
Nichts ist unmöglich mit Gott. Lasst uns nicht annehmen, dass Er mit unserer Sexualität nicht umzugehen weiß.
* Lonnie Frisbee war ein amerikanischer Evangelist und Straßenprediger, der seine Gaben insbesondere bei Bewegungen und Gemeinden wie den Jesus-People, der Calvary Chapel und der Vineyard-Bewegung einsetzte. Als seine Homosexualität bekannt wurde, distanzierten sich die Dienste allerdings stark von ihm. Frisbee unternahm einige Missionsreisen nach Südafrika und Südamerika, erkrankte schließlich an AIDS und starb.
** Paul Cain war ein amerikanischer Reiseprediger und Prophet der charismatischen Bewegung, sowie Berater hochrangiger internationaler Leiter und Geheimdienste wie der CIA und des FBI. 2005 bekannte er, mit homosexuellen Empfindungen und Alkoholismus zu kämpfen und trat infolgedessen zurück von seinem Dienst. 2007 galt er als rehabilitiert und nahm seinen Dienst wieder auf. Er war international bekannt und geschätzt für seinen bemerkenswerten Heilungsdienst und lebte sein Leben hingebungsvoll zu Gottes Ehren, bevor er 2019 verstarb.